“Das Leben ist stärker„

Kerstin Holm – Frankfurter Allgemeine Zeitung

12.5.2019

René Nyberg erzählt von seiner jüdischen Familie zwischen Krieg, Stalinismus und israelischem Exil

Die „Glasaugen“ waren für Fanny Nyberg im Lazarett, wo sie während des Zweiten Weltkrieges in Helsinki Dienst tat, Brillen, und „Rotlippe“ ihr Wort für den Lippenstift. Die Soldaten, die sie versorgte, lachten über ihre lustigen Wortschöpfungen, sie wiederum konnte die verschiedenen Dialekte nicht verstehen. Fanny Nyberg wollte richtiges Finnisch sprechen – „im Helsinkier Milieu waren die Nuancen subtil“.

In einem fast atemlosen Parforceritt durchquert René Nyberg die Geschichte des Baltikums, Finnlands und dessen kompliziertes Verhältnis zum großen Nachbarn Russland vor und nach der Revolution und dem Zerfall der Sowjetunion – das alles am Beispiel seiner jüdischen Familie.

Dass seine Mutter Fanny Jüdin ist, erfuhr der heute 73-jährige René Nyberg erst als Jugendlicher. Später findet er eine Notiz in den Unterlagen des finnischen Außenministeriums, für das er als Diplomat tätig ist. Für sein Buch Der letzte Zug nach Moskau forscht er in Archiven, befragt Zeitzeugen, sammelt Familiendokumente. Der Pass wird zum roten Faden. Der finnische Pass rettete Fanny, der sowjetische die Cousine Mascha und der deutsche, am Ende eines langen Lebens, Maschas Mann, einen in Berlin ausgebildeten Musiker.

Fanny hatte sich in Bruno Nyberg, einen Freund ihrer Brüder, verliebt. Sie wird nach Riga zu Onkel und Tante geschickt, um auf andere Gedanken zu kommen. Dort vertraut sie sich der Cousine an, die ihr rät, der Stimme des Herzens zu folgen. Zurück von der Hochzeitsreise mit Bruno, wird Fanny 1937 in Turku bei der Einreise verhaftet. Ihr Vater hat sie wegen Veruntreuung angezeigt. Aber nicht Fanny wird verurteilt, sondern der Vater, wegen Freiheitsberaubung. Die jüdische Familie hatte mit allen Mitteln versucht, sie von der Heirat mit einem Christen abzubringen.

Mascha ist mittlerweile mit dem Musiker Josef Jungman verheiratet. 1940 besetzt die Sowjetunion Lettland, 1941 überfällt Deutschland die UdSSR. Im allgemeinen Chaos der ersten Tage nach dem Einmarsch bringen sich Mascha und ihr Mann mit dem letzten Zug nach Moskau in Sicherheit. 1944 kommen sie ins menschenleere, aber nicht zerstörte Riga zurück. Wo die Verwandten, Väter und Mütter und Kinder, die nicht geflüchtet waren oder nicht flüchten konnten, endeten, ist schnell erzählt: Zu Tausenden wurden die Rigaer Juden an wenigen Tagen in Sichtweite der Stadt erschossen.

Aber das Leben ist stärker. Maschas Tochter Lena ist das erste jüdische Kind, das in Riga nach dem Krieg geboren wird. Sie wächst in der UdSSR auf und wird, wie von der Mutter gefordert, an den jüdischen Glaubensbräuchen als Mittel des stillen Protests festhalten. Der ambivalenten Wirkung zwischen Begeisterung und Schock, die die Weltjugendfestspiele 1957 in Moskau in der sowjetischen Gesellschaft auslösten, verdankt das Buch seine schönste Szene. Bruno Nyberg, nun hochrangiger Sportfunktionär, erhält von Chruschtschows Kulturministerin Furzewa eine Reise an einen Ort seiner Wahl „geschenkt“. Er wählt Riga.

Ein meschuggenes Land
„1957 fuhr ein riesiger schwarzer Wagen der russischen Marke SIL langsam am Spülsaum des Strandes Jurmala bei Riga entlang. Es war, erzählte Lena später, als sei ein Gast aus dem Weltraum zu ihnen herabgestiegen.“

Danach sind Verwandtenbesuche in Helsinki möglich. Mascha aber will mit ihrer Familie ganz raus aus ihrem „meschuggenen Land“. 1971 gelingt die Ausreise nach Israel. Der letzte Zug nach Moskau ist zweifellos ein Sachbuch, keine historische Begegnung wird ohne Quelle erzählt. Man erfährt von Skandalen und Intrigen in der finnischen Sportwelt, oder wie die finnischen Mitglieder der Waffen-SS nach Kriegsende in die Gesellschaft reintegriert wurden. Aspekte und Atmosphäre der Kollaboration in Lettland – heikel noch heute – sind Themen, auch Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, dessen Druckplatten Stalin zerstören ließ. Analysiert werden Stalins ambivalentes Verhältnis zu den Juden und sein kalkulierter Antisemitismus, der die Juden zum Spielball im Machtpoker des sowjetischen Vielvölkerstaates machte.

2015 in Finnland zum Buch des Jahres gewählt, erscheint Der letzte Zug nach Moskau nun auf Deutsch – im rechten Moment, in dem die Zeit der großen Relativierer angebrochen scheint. Wenn Nyberg beiläufig in den 1968er Studentenunruhen in Deutschland sowie dem daraus hervorgegangenen Terrorismus „eine Art Vatermord“ vermutet, ist Maxim Billers These vom „Linksrechtsdeutschen“ (Welt) plötzlich ganz plausibel.

Die Geschichte endet in West-Berlin, wohin Mascha und Josef 1974 umzogen. Ihre Geschichten, die mit dem Europa des 20. Jahrhunderts untrennbar verwoben sind, erzählt Nyberg, so wie die Geschichte des heimlichen Helden des Buches, Bruno Nyberg, und seiner Liebe zu Fanny, die Worte wie „Glasaugen“ und „Rotlippe“ erfand.

Info
Der letzte Zug nach Moskau. Zwei Freundinnen, zwei Schicksale, eine jüdische Familiengeschichte René Nyberg dtv 2019, 240 S., 22 €

News2day