It is the passport that holds the soul and body together.” (Timothy Snyder: The Holocaust as History and Warning, 2015, p. 255)
„Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ (Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche)
Mein Buch Der letzte Zug nach Moskau erzählt die Geschichte meiner Mutter, die einen finnischen Pass besaß und die ihrer Cousine Masha, die ihren lettischen Pass nach der sowjetischen Besetzung im Sommer 1940 verloren hatte. Masha wurde sowjetische Staatsbürgerin wider Willen, aber der sowjetische Pass rettete ihr das Leben. Sie und ihr Mann Josef konnten buchstäblich in letzter Minute mit dem letzten Zug aus Riga entkommen. Dieser Zug kam nie in Moskau an, aber er brachte die beiden ins sichere Alma-Ata in Kasachstan.
Der finnische Pass meiner Mutter garantierte ihr Sicherheit, denn Finnland ist niemals besetzt worden: weder von der Sowjetunion in den Jahren 1940 und 1944 noch von Deutschland in der Zwischenzeit.
Finnland hatte sich 1941 mit Beelzebub zusammengetan, um gegen den Teufel zu kämpfen. Das war die Reaktion auf Stalins Überfall von 1939 und zugleich ein hochriskantes Spiel, um Wiborg (damals die zweitgrößte Stadt Finnlands) und Gebiete in Karelien zurückzugewinnen, die nach dem Winterkrieg an die Sowjetunion abgetreten werden mussten.
Als Hitler 1939 die Tschechoslowakei zerschlug, blieb von den parlamentarischen Demokratien, die nach dem Ersten Weltkrieg in Europa entstanden waren, nur noch Finnland übrig. Alle anderen Länder waren den Verführungskünsten autoritärer Herrscher erlegen: Polen und Litauen schon 1926, Estland und Lettland folgten Mitte der dreißiger Jahre, die Tschechoslowakei gab nach München kampflos auf.
Im Herbst 1939 beorderte Stalin Vertreter der drei baltischen Staaten zu Verhandlungen nach Moskau. Seine Forderungen wurden schließlich widerstandslos akzeptiert. Mit Finnland war das anders. Wie Stephen Kotkin in seiner Stalin-Biographie erwähnt, nahm der Diktator insgesamt sieben Mal an Gesprächen mit Abgesandten Finnlands teil. Er verhandelte länger als mit jedem anderen Land – und dennoch vergeblich!
Die finnische Regierung verfügte über eine solide Mehrheit im Parlament und genoss eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Sie lehnte die territorialen Forderungen Moskaus ab ohne auf den Rat Marschall Mannerheims zu hören. Daraufhin zog Stalin andere Seiten auf: Molotow wurde angewiesen, die „Weißen Finnen“ zu beschimpfen, und Woroschilow erhielt den Befehl zum Angriff.
Trotz der deutsch-finnischen „Waffenbrüderschaft“, die faktisch ein Bündnis mit Hitler war, behielt der finnische Pass meiner Mutter seinen Wert. Finnland blieb auch während des Zweiten Weltkrieges eine parlamentarische Demokratie und ein Rechtsstaat. Von deutscher Seite gab es keine offiziellen Bemühungen, die kleine jüdische Gemeinde in Finnland mit ihren etwa 2000 Mitgliedern zu einem Thema zu machen, auch wenn es inoffiziell gelegentlich versucht wurde. So kämpften finnische Bürger jüdischer Abstammung in den Streitkräften an der Seite der Deutschen gegen die Rote Armee oder sie arbeiteten – wie meine Mutter – in einem Lazarett.
Das Schicksal der beiden Cousinen ist aufschlussreich. Ihre Väter stammten aus Orscha, heute eine Stadt in Weißrussland und damals im so genannten Ansiedlungsrayon gelegen, wo die jüdische Bevölkerung Wohn- und Arbeitsrechte hatte. Von insgesamt sechs Brüdern gingen zwei nach St. Petersburg, zwei zogen nach Riga, und einer wanderte nach New York aus. Der Vater meiner Mutter diente in der Armee des Zaren in Helsinki, wo er sich nach seiner Entlassung im Jahr 1903 niederließ und ein erfolgreicher Kaufmann wurde. Während die Brüder und Cousinen in Helsinki und Riga den Kontakt zu den Verwandten in Petrograd/Leningrad verloren, hielten sie ihre Beziehung aufrecht. Helsinki und Riga waren leicht zu erreichen, gegenseitige Besuche waren üblich – bis dann alles anders kam und auch dieser Kontakt unterbrochen wurde.
Meinem Vater, einem Goi, der die schöne Tochter eines orthodoxen jüdischen Kaufmanns geheiratet hatte, gelang es dann doch, Masha 1957 in Riga ausfindig zu machen. Es war die Zeit von Chruschtschows Tauwetter, und in Moskau fanden Weltjugendfestspiele statt. Mein Vater war ein internationaler Sportfunktionär. So kam es, dass ihm Jekaterina Furtsewa, die Ministerin für Volksbildung, anbot, einen Ort seiner Wahl in der Sowjetunion zu besuchen. Mein Vater nahm sich vor, die Cousine seiner Frau in Riga zu finden. Und es gelang.
Das ist aber noch nicht das Ende der Geschichte über Pässe. Masha und Josef gaben 1971 ihre sowjetische Staatsbürgerschaft auf und emigrierten nach Israel. Drei Jahre später zogen sie nach West Berlin um und erhielten 1975 die deutsche Staatsbürgerschaft. Josef bekam eine ansehnliche deutsche Rente. Für den Rest ihres Lebens behielten Masha und er den deutschen und den israelischen Pass.
Ihre einzige Tochter, Lena, konnte die Rückgabe des stattlichen Jugendstilhauses ihrer Großeltern in Riga erreichen. Sie beantragte die lettische Staatsbürgerschaft, die sie auch automatisch bekam, weil sie in Riga geboren war. Lena starb im vergangenen Jahr als Bürgerin Israels, Lettlands und der Europäischen Union. Ihr Sohn und ihre Enkel haben ebenfalls einen lettischen Pass.
Pässe sind von Bedeutung, aber wirklich entscheidend für ihren Wert ist, dass der Staat, der sie ausstellt, auch gewillt und in der Lage ist, seine Bürger zu schützen und zu verteidigen.