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Luther, der wichtigste Finne

ené Nyberg – 9th October 2017

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Nordischen Länder sind aus historischen Gründen heute die protestantischsten Staaten der Welt. Das half ihnen vor allem im Umgang mit dem Nachbarn Russland. Eine ökumenische Tiefenbohrung

Nirgends wurde die Reformation so konsequent und flächendeckend durchgeführt wie in den Nordischen Ländern. Das Luthertum wurde Staatsreligion, die religiöse Gemeinschaft fungierte als Grundlage des Staates, bevor die Idee einer Nation überhaupt entstand. Schweden, Dänemark und die jahrhundertelang von diesen beherrschten Länder Island, Norwegen und Finnland sind bis auf den heutigen Tag die lutherischsten Staaten der Welt.

Das erklärt einige Kuriositäten, etwa die Bewahrung alter religiöser Riten oder die Verwendung der Messgewänder der katholischen Kirche in Finnland und in Schweden. Um es mit den Worten des Theologen Friedrich Wilhelm Graf zu sagen: „Schwedische und finnische lutherische Pfarrer, die in alten katholischen Messgewändern Hochämter singend zelebrieren, markieren einen bewusst romnahen Pol des Protestantischen.“

Kari Mäkinen, der derzeitige Erzbischof von Finnland und Turku, ist ein Nachfolger des heiligen Henrik und der 54. Inhaber dieses apostolischen Amtes. All dies zeugt davon, wie fern der Katholizismus damals war. Unterstützt durch einen starken Nationalstaat entwickelte sich das Luthertum in Schweden zur dominierenden Religion. Außerdem ging es im 16. Jahrhundert ums Konfiszieren von Kirchengütern, den König interessierte im Grunde wenig, was in seinem Land gebetet und gelehrt wurde, solange es nicht gegen die Krone gerichtet war. Die Parallelen zwischen dem Schweden von Gustav Wasa und dem England von Heinrich VIII. sind augenfällig.

Gustav Wasas mit harter Hand durchgeführte Reformation vertiefte den Kontrast zu dem Weltbild, das jenseits der Ostgrenze herrschte. Das orthodoxe religiöse Leben basierte nicht darauf, dass die Gemeindemitglieder lesen konnten. Die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit im lutherischen Schwedenreich (und folglich auch in Finnland) im 18. und 19. Jahrhundert verschärfte die kulturelle Trennlinie weiter, wozu auch die unterschiedliche ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung in Ost und West beitrug.

Die Ostgrenze Schwedens und die spätere Ostgrenze Finnlands waren nie Sprachgrenzen. Ein orthodoxer Karelier empfand sich als „rechtgläubig“, den protestantischen Bauern, der dieselbe Sprache sprach, aber im Nachbardorf jenseits der Grenze lebte, bezeichnete er als „Schweden“. In diesen Kontext passt, dass Mikael Agricola Luthers Liste der schlimmsten Geißeln erweiterte. Für Luther waren diese „der Papst, der Antichrist und die Türken“. Bei Agricola sind es „der Papst, der Antichrist, die Türken und die Russen“.

Samuel Huntingtons berühmtes, 1995 erschienenes Buch „Clash of Civilizations“ zeichnet eine Grenze zwischen Ost und West, die mit der finnischen Ostgrenze beginnt und die historischen Trennlinien zwischen dem römischen und dem byzantinischen Reich zugrunde legt. Diese Grenze war in vieler Hinsicht ein tiefer Graben. Als 1617 durch den Frieden von Stolbova die Provinzen Käkisalmi und Ingermanland an Schweden fielen, wurden viele orthodoxe Karelier Untertanen des schwedischen Königs. Der missionarische Eifer der protestantischen Priester und die harte Besteuerung verursachten eine Fluchtwelle aus den Provinzen Olonez und Ingermanland. Viele orthodoxe Karelier siedelten in die Gebiete Twer und Nowgorod um, wo karelische Gemeinschaften entstanden. An ihre Stelle zogen protestantische Einwanderer, die Ingermanländer.

Die vierhundertjährige Geschichte der Ingermanländer beweist, dass das russische Reich keine systematische Missionspolitik in den von ihm eroberten, besser entwickelten Gebieten praktizierte. Stattdessen verbot das orthodoxe Zarenreich den sogenannten Proselytismus, also jede Missionstätigkeit anderer Religionsgemeinschaften; niemand durfte im kanonischen Gebiet der russisch-orthodoxen Kirche Untertanen des Zaren zum Konvertieren überreden. Im Gegenteil, das unterentwickelte Zarenreich begnügte sich damit, die lokalen Eliten zu integrieren und seine Macht so zu zementieren. Diese Strategie war vor allem in den Teilen des Reiches sinnvoll, die weiter entwickelt waren als Russland selbst. Das gelungenste Beispiel ist zweifellos das Großfürstentum Finnland. Anlässlich der 300-Jahrfeier der Reformation verlieh Kaiser Zar Alexander I. dem Turkuer Bischof Jakob Tengström Titel und Amt eines Erzbischofs.

Die Verwaltungsstruktur in den sogenannten Finnländischen Provinzen, also den von Schweden im 18. Jahrhundert eroberten Provinzen Wiborg und Kymmene, erinnerte an die in Estland und Livland. Verwaltungssprache war Deutsch. Die lutherische Kirche in Ingermanland gehörte administrativ zur deutschen lutherischen Gemeinde in Russland. Bis ins späte 19. Jahrhundert hielt sich Deutsch als Verwaltungssprache des Klerus, obwohl in den Kirchen Ingermanlands Finnisch gesprochen und gelehrt wurde. Der Großteil der Priester stammte aus dem Großfürstentum Finnland, und als Stalin im Jahr 1932 in der Sowjetunion Personalausweise einführte, wurde die Nationalität der Ingermanländer in diesen als Finn, Finka bezeichnet, als finnisch.

Die finnische Identität ist weitgehend von der lutherischen Tradition geprägt, die über die religiöse Sphäre weit hinaus geht. Aus historischen Gründen ist Finnland vielleicht das protestantischste Land der Welt. In Finnland agieren verschiedene Erweckungsbewegungen innerhalb der lutherischen Volkskirche und bemühen sich, gute Lutheraner zu sein. Umgekehrt entstanden in Schweden durch den Einfluss des Pietismus viele freikirchliche Gemeinden. In Russland machte ich ab und zu den Witz: „Der wichtigste Finne, der je gelebt hat, war Martin Luther.“ Manche Russen verstanden sogar, was ich damit meine.

In der Sowjetunion und später in Russland zu studieren, zu arbeiten, zu leben, wirkte sich fundamental auf mein Weltbild aus. Es stärkte meine finnische Identität, ich merkte, wie sehr ich im kulturellen Sinn Lutheraner bin. Der primitive sowjetische Atheismus mit seinen verstaubten Museen zeugte schon damals von der Verknöcherung der Sowjetideologie. Die orthodoxe Kirche balancierte zwischen den Forderungen des atheistischen Sowjetstaates und der Bewahrung der kirchlichen Traditionen.

Das Sowjetsystem basierte bekanntlich auf Lügen und Gewalt. Das Morden hatte zwar nach Stalins Tod aufgehört, aber das System war noch immer grausam, die Menschen waren noch immer schutzlos.

Miru Mir, „Frieden für die Welt“, war ein zentraler Slogan der Sowjetpropaganda. Die Politik der Sowjetunion inklusive des brutalen Niederschlagens von Aufständen in Osteuropa und dem Einmarsch in Afghanistan waren allesamt ein Kampf „für den Frieden“. Die kommunistische Partei erwartete auch von der russischen Kirche Maßnahmen „für den Frieden“. Andererseits gewährte sie der Kirche aber auch Zutritt zur Welt. Die Friedensmission und die Erlaubnis, neue Kontakte zu knüpfen, setzten voraus, dass man das Sowjetsystem unterstützte. Das KGB hatte die Kirche fest im Griff.

Der Kampf für den Weltfrieden mit seinen Friedenstauben motivierte auch einige Finnen. Ende der sechziger Jahre betrieben einige Laienmitglieder der Kirche, angeführt von Professor Heikki Waris, die Teilnahme der evangelisch-lutherischen Kirche an der 1958 in Prag gegründeten Christlichen Friedenskonferenz (Christian Peace Conference). Was wäre fortschrittlicher gewesen als eine solche Teilnahme? In Finnland hätten sich sicher außer dem ehrbaren Professor emeritus auch noch andere Unterstützer für diese Teilnahme gefunden, aber Erzbischof Martti Simojoki entschied anders. Er erklärte, man solle die Friedensarbeit der Kirche nicht politisieren. Nikodim, der Metropolit von Leningrad, der für die Außenbeziehungen der orthodoxen Kirche Russlands zuständig war und auch zum Vorstand der Prager Friedenskonferenz gehörte, wandte sich zwar mehrfach an die finnische Kirche und lud sie nach Prag ein, aber in den unter vier Augen geführten Gesprächen mit Erzbischof Simojoki brachte Nikodim dieses Anliegen kein einziges Mal vor.

Die Initiative, regelmäßige theologische Diskussionen zwischen der finnischen evangelisch-lutherischen Kirche und der russisch-orthodoxen Kirche zu veranstalten, war eine mutige und in vieler Hinsicht unorthodoxe Tat. Was ihre Lehren angeht, sind die orthodoxe und die evangelische Kirche weit voneinander entfernt, ja in manchen Fragen repräsentieren sie sogar gegensätzliche Auslegungen. Dennoch verdrängte damals diese Initiative im Hinblick auf Finnland das Friedensthema der Sowjetpropaganda, was offenbar auch der orthodoxen Kirche ins Konzept passte. Unabhängig davon, wie streng das KGB die Kirche kontrollierte, sprach die theologische Auseinandersetzung mit der finnischen evangelisch-lutherischen Kirche doch viele gebildete russische Kleriker an. Der Dialog bot ihnen die Möglichkeit, sich vom offiziellen Friedensthema loszulösen, zumindest im Kontakt mit Finnland.

Politisch war diese Initiative ein geschickter Schachzug. Die theologischen Gespräche waren unstreitbar ein Erfolg und führten dazu, dass die finnische evangelisch-lutherische Kirche langsam, aber sicher, zur Expertin für das kirchliche Leben in der Sowjetunion wurde. Die Gespräche wurden auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weitergeführt. Den damaligen Zeitgeist spiegelt allerdings wider, dass die Gespräche im Jahr 2014 ausgesetzt wurden: Grund dafür waren Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Sexualethik.

Interessanterweise nahm die finnische evangelisch-lutherische Kirche entsprechende theologische Gespräche mit der traditionellen, aber sehr viel kleineren finnischen orthodoxen Kirche erst auf, nachdem sie solche bereits mit der russischen Kirche pflegte. Ein Grund hierfür war, dass die Leitung der lutherischen Kirche einige Konvertiten, die es bis an die Spitze der orthodoxen Kirche gebracht hatten, mit Argwohn betrachtete. Auch die traditionellen Orthodoxen waren misstrauisch, denn die finnischen Lutheraner hatten sie bisher feindselig und arrogant behandelt. Weitere Spannungen verursachten die Aktivitäten der kleinen Gemeinde des Moskauer Patriarchats in Finnland.

Auch die Leitung der finnischen orthodoxen Kirche bewies politisches Geschick, als sie die Versuche Moskaus abwehrte, die finnische orthodoxe Kirche zurück in das Moskauer Patriarchat zu zwingen, von dem sie sich 1923 gemeinsam mit der estnischen orthodoxen Kirche abgespalten hatte, und aus dessen Obhut es in die von Konstantinopel übergegangen war. Eine entsprechende Initiative der Alliierten Kontrollkommission verlief im Sand, als Erzbischof Herman (1925 bis 1960) das Einberufen eines orthodoxen Kirchentags bis zum Jahr 1955 hinauszögerte. Dann wurde der Vorschlag abgelehnt, und Moskau begnügte sich mit der Entscheidung.

Erzbischof Simojoki kann mit dem Kommandeur der finnischen Streitkräfte General Sutela (1918 bis 2011) verglichen werden, der kraft seines Amtes und ohne mit der Wimper zu zucken 1978 sämtliche Vorschläge der Sowjetarmee für gemeinsame militärische Manöver mit Finnland abschmetterte. Beide Beispiele zeigen, dass die Last der finnischen Außenpolitik nicht allein auf den Schultern des Staatspräsidenten ruhte. Die außenpolitische Logik eröffnete sich auch anderen Personen, die in entscheidenden Positionen saßen, und die sowohl Finnlands Lage als auch die Herausforderung verstanden, welche die Sowjetunion darstellte.

Luther, seine Kirche und seine Lehre sind ein Bestandteil der finnischen Geschichte, auch wenn die Menschen dies heutzutage nicht unbedingt spüren, und obwohl heute nur noch siebzig Prozent der Bevölkerung der evangelisch-lutherischen Kirche angehören. Diese allgemeine Entwicklung zum Profanen wird in einem schönen jüdischen Witz aus Israel pointiert: Ein Gast aus Europa erklärt, er sei Atheist. Darauf fragt der alte jüdische Gastgeber: Atheist welcher Religion? Der verwirrte Europäer wiederholt, dass er nicht an Gott glaube, worauf der Gastgeber fragt: „Ja, aber an wessen Gott glauben Sie nicht?“

Die historische und kulturelle Verbindung mit Schweden ist ein ebenso integraler Bestandteil der finnischen Tradition wie das Luthertum. Die Finnen waren Schweden, als solche jedenfalls betrachtete man sie in Karelien. Finnland, das an der Grenze zwischen zwei Welten lag, gehörte zur schwedischen Kultursphäre und nicht zur russischen „Russki Mir“, und so wurde Finnland nicht zu einer Volksdemokratie, sondern zu einem Nordischen Land.RENÉ NYBERG

Der Autor ist ehemaliger finnischer Botschafter in Moskau und Berlin.

Aus dem Finnischen von Roman Schatz